CRASS: THE SOUND OF FREE SPEECH – THE STORY OF REALITY ASYLUM beim UNERHÖRT! Musikfilmfestival 2024 in Hamburg

© Steve Ward

CRASS: THE SOUND OF FREE SPEECH –
THE STORY OF REALITY ASYLUM

Brandon Spivey | Vereinigtes Königreich | 2023 | 95’ | OV


Als Punk das Anarchie-A noch ernst gemeint hat: »Crass« gehören quasi zur britischen Punk-Ursuppe, 1977 in Essex gegründet, nicht nur als Band, sondern als Kunstkollektiv. Als sie 1978 ihr erstes Album herausbringen wollen, weigert sich das Presswerk, den darauf ursprünglich enthaltenen Song »Reality Asylum« auf die Platte zu pressen. Man findet den Text zu blasphemisch. Also bleibt der Track stumm und erhält konsequenterweise den Titel »The Sound of Free Speech«. Regisseur Brandon Spivey nimmt diese Episode zum Ausgangspunkt für einen Abriss über die Band-Geschichte, die untrennbar verknüpft ist mit linksextremem Politik- und Kunstverständnis ihrer Zeit, als der Neoliberalismus die zumindest etwas softeren Sozialvereinbarungen der Nachkriegszeit aufgekündigt und damit die Weltwirtschaftsordnung gekippt hat. Was das bedeutet hat, seinerzeit und in dieser Gegend, also in den 70er und 80er Jahren in Großbritannien, und wie sich durch Punk eine anarchistische Bewegung im Widerstand dazu neu erfunden hat, davon erzählt der Film von Spivey, der selbst nicht nur Regisseur und Musiker, sondern auch überzeugter Polit-Aktivist ist, und der darum weiß, wie gut so ein Rückblick, so eine Bilanz zur ratlosen Gegenwart passt.

Ohne Einverständnis der früheren Bandmitglieder ist der Film natürlich gar nicht denkbar, und die wichtigsten Protagonisten dieses Projekts wie Sänger Steve Ignorant und Schlagzeuger Penny Rimbaud – aber auch Wegbegleiter:innen wie Annie Bandez (aka Little Annie) und einige mehr – halten sich mit Stellungnahmen nicht zurück. Trotzdem ist auch klar, dass Spivey hier seine persönliche Perspektive skizziert. Bemerkenswert sind viele seiner formalen Entscheidungen: Er setzt nicht nur sprechende Köpfe in Szene, sondern auch Animationen ein und collagiert Archivbilder – besonders verstörend: die aggressive Montage von Aufnahmen, wie die von den Nazis befreiten Franzosen der Kollaboration verdächtigten Frauen die Haare scheren, durch die Straßen treiben und demütigen, passend zum Titel der B-Seite der dann später auf Eigeninitiative der Band herausgebrachten »Reality Asylum«-Single: »Shaved Women«. Auch für diesen Teil der Arbeit hat sich Spivey wieder in einen Gruppenzusammenhang gesucht, eine Spur führt nach Berlin, zum linken Medienkollektiv sansculotte.de

Fotocredit:  Steve Ward